Es ist die Sensation in Avonlea, einem kleinen fiktiven Ort auf Prince Edward Island im Kanada des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Das Geschwisterpaar Marilla und Matthew Cuthbert hat sich entschlossen, ein Kind zu adoptieren. Doch anstelle des ersehnten Jungen, der den brummigen Junggesellen und seine ebenfalls unverheiratete Schwester bei der Farmarbeit unterstützen soll, taucht durch ein Versehen des Waisenhauses plötzlich Anne auf Green Gables auf.


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Die gleichnamige Serie aus dem Hause TITANIA MEDIEN ist die erste Hörspielumsetzung des vor genau 100 Jahren erschienenen Jugendbuchklassikers der kanadischen Autorin Lucy Maud Montgomery (1874 - 1942). Im Mittelpunkt ihrer auf mehrere Romane hin angelegten Entwicklungsgeschichte steht die zu Beginn der Handlung elfjährige Anne Shirley, deren Eltern an Gelbfieber verstorben sind. Seit diesem Zeitpunkt hat das kleine Mädchen mit den vielen Sommersprossen und der knochigen Gestalt auf ein liebevolles familiäres Umfeld verzichten müssen. Die vermeintliche Aufnahme im wunderschönen Anwesen der Cuthberts verheißt dem schwärmerischen Rotkopf daher das ganz große Glück. Allerdings macht Marilla keinen Hehl daraus, daß sie nicht daran denkt, den weiblichen Familienzuwachs zu behalten.
Nichtsdestotrotz kommt am Ende selbstverständlich alles anders und so wirkt es für einen Moment, als starte man mit "Die Ankunft" nur wenig spektakulär. Eng an die englische Originalausgabe "Anne of Green Gables" angelehnt, dient die erste von insgesamt vier Folgen - die als erste Staffel einen Zeitraum von fünf Jahren beschreiben - in der Hauptsache dazu, die wichtigsten Personen in ihrem Umfeld einzuführen. Für TITANIA MEDIEN ergab sich daraus der Anspruch, vor allem für die Figur des Waisenmädchens eine Sprecherin auszuwählen, die im Verlauf der Erzählung und damit der bereits im Herbst 2008 erscheinenden zweiten Staffel, auch stimmlich die glaubwürdige Entwicklung zur heranwachsenden Frau mittragen konnte. Fündig wurde man dabei in Marie Bierstedt (u.a. deutsche Synchronstimme von Kirsten Dunst), die es versteht, dem Hörer Anne anfänglich als einen schwärmerischen Charakter zu präsentieren, der sich auf den Flügeln kindlicher Phantasie mental und sprachlich durchs Leben tragen läßt. Die Gegenwelt, die sich das Kind angesichts seiner traurigen Erlebnisse erschaffen hat, verflüchtigt sich vor dem Hintergrund der neuen Lebensumstände indessen mehr und mehr und mit ihm die metaphorische Sprache.



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Anne wird zum Sonnenschein der Cuthberts, und Marilla muß sich bereits nach drei Wochen, d.h. zu Beginn der zweiten Folge eingestehen, daß sie nicht mehr weiß, wie sie es jemals ohne das Mädchen ausgehalten hat. Entsprechend dieser Veränderung versteht es Dagmar von Kurmin, die bereits in etlichen Produktionen des Leverkusener Labels zu hören war, dem gestrengen, kontrollierten Tonfall Marillas eine weiche Note zu geben, eine Note, die ihr Bruder Matthew von jeher besitzt. Anders als seine Schwester hat er die quirlige Plappertasche sofort in sein Herz geschlossen. Umso trauriger ist es, daß Schriftstellerin Montgomery diese Figur als schüchternen, zurückhaltenden Charakter angelegt hat, der einen - Folge vier mit dem Titel "Ein Abschied und ein Anfang" läßt es vermuten - schon allzu bald verlassen wird. Zu gerne hätte man Jochen Schröder, der den liebenswerten Souverän und Diplomat Matthew mimt, der des öfteren die Fäden im Hintergrund zieht, weiter zugehört. Statt dessen präsentiert TITANIA MEDIEN in diesem Zusammenhang eine Abschiedsszene, die einem gleich allen Beteiligten unaufhaltsam die Tränen in die Augen treibt.

Mit "Anne" hat sich Marc Gruppe, der zusammen mit Stephan Bosenius seit 2003 für anspruchsvolle Hörspielproduktionen steht, wie er selbst sagt, einen "Herzenswunsch" erfüllt. Fernab von den Markt überflutenden Serienkillern, Kommissaren oder Wesen aus einer anderen Welt hat man es hier mit der Adaption eines Stoffes zu tun, der allein durch die Sorgen und Nöte sowie durch die Liebenswürdigkeit seiner Charaktere besticht. Es sind die kleinen Episoden, die sich, erzählt von der unverwechselbaren Stimme Lutz Mackensys, zur Geschichte eines ungewöhnlichen Mädchens zusammenfügen, welches, um es mit dem Vokabular des 21. Jahrhunderts zu sagen, eine große soziale und emotionale Kompetenz besitzt. Diese Komponenten verleihen den Ereignissen ihren besonderen Charme, ohne jemals langatmig oder langweilig zu werden.



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Nach diversen Verfilmungen, einer Zeichen- sowie einer Comicserie ist "Anne. Die Hörspielserie", die sich vor allem auch an Familien richtet, eine weit über das gängige Maß vieler Neuveröffentlichungen hinausgehende Produktion. Neben der hervorragenden Sprecherbesetzung, die lediglich kurzzeitig durch die in der 1. Folge zu übertrieben gesprochene Rachel Lynde (Regina Lemnitz) getrübt wird, spiegelt sich die perfekte Detailarbeit sowohl in einer durchdachten Geräusch- und zeitgemäßen Musikkulisse als auch im Design der Cover wieder. Die aus jeweils vier Folgen bestehenden Staffeln bilden optisch durch die sich farblich wiederholende Rahmengebung eine Einheit, wobei das besondere Augenmerk auf den Illustrationen von Firuz Askin liegt. Askin versteht es, Anne ein Gesicht zu geben und ausschnittsweise die Szenerie in der Art eines Ölgemäldes abzubilden. Die verschnörkelten Ornamente, die sich ebenfalls auf den CDs selbst finden, werden dem Wesen von Geschichte und Produktion durchaus gerecht, ohne kitschig zu wirken. Ach, müßte es nicht herrlich sein, Annes weiteres Leben zu begleiten? Bereits im Herbst 2008 erscheinen mit "Anne in Avonlea" vier neue Folgen.

Petra

 


 
 


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